Foto: Saskia-Marjanna Schulz |
Es begann
damit, dass meine Stimme versagte.
Es war in
den Niederlanden. Ich bin Marktforscherin und ich hielt eine grosse Markt-Präsentation
in einem holländischen Lebensmittel-Unternehmen. Zuerst versagte das Mikro
dieser Firma – und dann meine Stimme. Zum Glück konnte mein Kollege übernehmen
und die Präsentation war gerettet.
Ich freute
mich über den Erfolg der Präsentation. Dafür hatten wir wochenlang gearbeitet.
Aber ich dachte auch über das Versagen meiner Stimme nach. Das durfte mir nicht
noch einmal passieren.
Ich fragte
mich: Wie kann ich am besten meine Stimme trainieren? Eine befreundete Fernseh-Journalistin
wusste Rat. Sie recherchierte in den deutschen Fernseh-Studios und schon bald
hatte ich den Geheim-Tipp in den Händen: eine Professorin von der
Musikhochschule Köln.
So nahm ich
Unterricht, trainierte meine Stimme und alles war gut.
Doch schon
bald gab es da eine Herausforderung, die mein Denken veränderte.
„Sie können
doch so gut motivieren – können Sie einer Schülerin von mir Unterricht geben?“
So die Professorin. Ich – soll – Unterricht geben – in – MOTIVATION? Sorry. Ich
bin Marktforscherin. Wir können über Statistik sprechen. Über
Interviewtechniken. Über die Marktsituation in Deutschland und … „Nein“, sagte
sie. MOTIVATION! MIT DEM ZIEL: MEHR SELBSTBEWUSSTSEIN! Und: „Ich weiss, dass
Sie das können.“
Wer mag
einer so charmanten Schauspiel-Professorin eine Bitte abschlagen?
Fortan kam
jeden Dienstagnachmittag eine im Rollstock sitzende Frau zu mir. Sie erzählte
mir, dass sie eine Lebensmittelvergiftung hatte und seitdem im Rollstuhl sitzt.
Seit einiger Zeit geht sie regelmässig zum Unterricht zu meiner
Schauspiel-Professorin und lernt „richtig zu atmen“ und Körper-Übungen. Das
kannte ich ja schon. Und meine Stimme hat wirklich mächtig an Volumen,
Klangfarbe und Ausdauer gewonnen. Aber: Was hat das mit meinen Beinen zu tun?
Die Dame,
nennen wir sie Brigitte, sagte mir, dass sie durch das Atmen und die
Körperübungen wieder Gefühle in den Beinen hat. Und dass die Professorin und
sie glauben, dass sie eines Tages wieder laufen kann.
Brrrrrrrr!
Und das
sollte ich jetzt auch glauben?
Ich vermied
dieses Thema, sprach aber mit ihrem Arzt – und der lachte nur.
Gut, dachte
ich. Mein Verstand ist also noch in Ordnung.
Doch das
unerschütterliche Glauben an „das baldige Gehen“ berührte mich sehr. Und so
erinnerte ich mich an meine Uni-Zeit in Psychologie und Soziologie und kramte
in meinen Fachbüchern. Und lernte, sie zu motivieren, dass sie an sich selbst
glauben konnte. Meine Kolleg*innen im Institut unterstützten mich bei meiner
Motivationsarbeit. Und nach einiger Zeit hatten wir den Eindruck, dass Brigitte
selbstbewusster und lebensfroher geworden war.
Ziel erreicht! Und jetzt?
Am Ende des
Tages hatte ich eine Idee. Wir waren gerade wieder in Köln angekommen und ich
fuhr in Richtung Altstadt. Hier sitzen die Kölner abends gerne auf den
Terrassen zum Rhein und essen ihre Lieblingsspeise: „Halven Hahn“ (leckeres
Käsebrötchen).
„Ach“,
sagte Brigitte, „einen halven Hahn auf den Rheinterrassen. Davon träume ich
schon so lange.“ Ich hielt am Rande der Altstadt und Brigitte konnte ihren
Blick über die Altstadt schweifen lassen.
Foto: Saskia-Marjanna Schulz
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Doch da
mussten wir feststellen, dass wir den Rollstuhl vergessen hatten. Und die
Altstadt ist Autofreie Zone. So ein Pech.
Ich sah,
wie es in Brigittes Kopf ratterte: „Haben wir denn die Stöcke dabei?“
Manchmal
hatte Brigitte für ein paar Sekunden gestanden – die Hände auf die Stöcke
gestützt. Aber immer mussten wir diese Übung nach Sekunden abbrechen.
„Ja, die
Stöcke habe ich“, sagte der Sohn und holte sie geschwind aus dem Kofferraum.
Und dann
stieg Brigitte aus dem Auto und stützte sich auf die Stöcke. Sie machte einen
Schritt. Dann noch einen. Und nach 20 Meter stand sie vor dem ersten Lokal! Sie
hatte Tränen in den Augen als sie dem erstbesten Passant sagte: „Seit 12 Jahren
sitze ich im Rollstuhl – das sind meine ersten Schritte in die Freiheit!“
Noch nie
hat mir ein „Halver Hahn“ so lecker geschmeckt wie an diesem Sonntag.
Lilli Cremer-Altgeld
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