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Freitag, 5. Mai 2017

Wie eine Schauspiel-Professorin eine Gelähmte zum Laufen brachte




Foto: Saskia-Marjanna Schulz


Es begann damit, dass meine Stimme versagte.

Es war in den Niederlanden. Ich bin Marktforscherin und ich hielt eine grosse Markt-Präsentation in einem holländischen Lebensmittel-Unternehmen. Zuerst versagte das Mikro dieser Firma – und dann meine Stimme. Zum Glück konnte mein Kollege übernehmen und die Präsentation war gerettet.

Ich freute mich über den Erfolg der Präsentation. Dafür hatten wir wochenlang gearbeitet. Aber ich dachte auch über das Versagen meiner Stimme nach. Das durfte mir nicht noch einmal passieren.

Ich fragte mich: Wie kann ich am besten meine Stimme trainieren? Eine befreundete Fernseh-Journalistin wusste Rat. Sie recherchierte in den deutschen Fernseh-Studios und schon bald hatte ich den Geheim-Tipp in den Händen: eine Professorin von der Musikhochschule Köln.

So nahm ich Unterricht, trainierte meine Stimme und alles war gut.
Doch schon bald gab es da eine Herausforderung, die mein Denken veränderte.
„Sie können doch so gut motivieren – können Sie einer Schülerin von mir Unterricht geben?“ So die Professorin. Ich – soll – Unterricht geben – in – MOTIVATION? Sorry. Ich bin Marktforscherin. Wir können über Statistik sprechen. Über Interviewtechniken. Über die Marktsituation in Deutschland und … „Nein“, sagte sie. MOTIVATION! MIT DEM ZIEL: MEHR SELBSTBEWUSSTSEIN! Und: „Ich weiss, dass Sie das können.“

Wer mag einer so charmanten Schauspiel-Professorin eine Bitte abschlagen?
Fortan kam jeden Dienstagnachmittag eine im Rollstock sitzende Frau zu mir. Sie erzählte mir, dass sie eine Lebensmittelvergiftung hatte und seitdem im Rollstuhl sitzt. Seit einiger Zeit geht sie regelmässig zum Unterricht zu meiner Schauspiel-Professorin und lernt „richtig zu atmen“ und Körper-Übungen. Das kannte ich ja schon. Und meine Stimme hat wirklich mächtig an Volumen, Klangfarbe und Ausdauer gewonnen. Aber: Was hat das mit meinen Beinen zu tun?

Die Dame, nennen wir sie Brigitte, sagte mir, dass sie durch das Atmen und die Körperübungen wieder Gefühle in den Beinen hat. Und dass die Professorin und sie glauben, dass sie eines Tages wieder laufen kann.

Brrrrrrrr!     

Und das sollte ich jetzt auch glauben?

Ich vermied dieses Thema, sprach aber mit ihrem Arzt – und der lachte nur.
Gut, dachte ich. Mein Verstand ist also noch in Ordnung.

Doch das unerschütterliche Glauben an „das baldige Gehen“ berührte mich sehr. Und so erinnerte ich mich an meine Uni-Zeit in Psychologie und Soziologie und kramte in meinen Fachbüchern. Und lernte, sie zu motivieren, dass sie an sich selbst glauben konnte. Meine Kolleg*innen im Institut unterstützten mich bei meiner Motivationsarbeit. Und nach einiger Zeit hatten wir den Eindruck, dass Brigitte selbstbewusster und lebensfroher geworden war.  Ziel erreicht! Und jetzt?

Es war ein Sonntag im Sommer. Ich wollte Brigitte und ihren Sohn mit einer kleinen Fahrt ins Blaue überraschen. Brigitte hatte fleissig geübt und sich schon Stöcke gekauft, um das STEHEN darauf zu üben. Heimlich packte der Sohn die Stöcke ein. Ich nickte – wusste aber noch nicht warum.

Am Ende des Tages hatte ich eine Idee. Wir waren gerade wieder in Köln angekommen und ich fuhr in Richtung Altstadt. Hier sitzen die Kölner abends gerne auf den Terrassen zum Rhein und essen ihre Lieblingsspeise: „Halven Hahn“ (leckeres Käsebrötchen).

„Ach“, sagte Brigitte, „einen halven Hahn auf den Rheinterrassen. Davon träume ich schon so lange.“ Ich hielt am Rande der Altstadt und Brigitte konnte ihren Blick über die Altstadt schweifen lassen.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Doch da mussten wir feststellen, dass wir den Rollstuhl vergessen hatten. Und die Altstadt ist Autofreie Zone. So ein Pech.

Ich sah, wie es in Brigittes Kopf ratterte: „Haben wir denn die Stöcke dabei?“
Manchmal hatte Brigitte für ein paar Sekunden gestanden – die Hände auf die Stöcke gestützt. Aber immer mussten wir diese Übung nach Sekunden abbrechen.

„Ja, die Stöcke habe ich“, sagte der Sohn und holte sie geschwind aus dem Kofferraum.

Und dann stieg Brigitte aus dem Auto und stützte sich auf die Stöcke. Sie machte einen Schritt. Dann noch einen. Und nach 20 Meter stand sie vor dem ersten Lokal! Sie hatte Tränen in den Augen als sie dem erstbesten Passant sagte: „Seit 12 Jahren sitze ich im Rollstuhl – das sind meine ersten Schritte in die Freiheit!“


Noch nie hat mir ein „Halver Hahn“ so lecker geschmeckt wie an diesem Sonntag.









Lilli Cremer-Altgeld

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